Nicht alles, was dem Mensch gefällt, braucht ein Pferd

Das wohlbehütete Pferd

 

von Fachtierarzt Dr. Maximilian Pick

Wer noch mit einer einfachen Wassertrense das Pferd an die Hilfen stellen will oder gar ein Pferd artgerecht halten möchte, geht nicht mit der Zeit. So kann man es aus den zahlreichen Zubehörkatalogen herauslesen. Seitenweise werden dort auch Pferdedecken angeboten, die das Pferd vor allen möglichen Schädlichkeiten schützen sollen:

Vor Regen schützt die Regendecke, dem schwitzenden Pferd hilft die Abschwitzdecke, die Nierendecke bewahrt das Pferd vor Nierenerkältungen, beim Ausreiten hat man die Ausreitdecke, der modebewusste Reiter kann wahlweise mit einer Lodendecke oder einer Baumwolldecke ausreiten. Die Fliegendecke schützt das seiner Dreck-(Schutz)-Schicht entkleidete, eventuell sogar gewaschene und säuberlich frisierte Pferd vor den lästigen Insekten. Die Stalldecke ist für den Stall, und das kleine Fohlen gewöhnt sich rechtzeitig an den perversen Deckenkult mit einer Fohlendecke. Wer jetzt glaubt, der Autor dieser Zeilen würde übertreiben, der muss nur einen entsprechenden Katalog aufschlagen.

Welchen Zweck haben aber die Decken nun wirklich? Es kann doch nicht sein, dass alle Welt Decken benutzt, ohne dass ein vernünftiger Grund dahinter steckt.

1. Grund: Die Erkältungskrankheit

Ein Pferd, welches im Wind oder in der Zugluft steht, vielleicht gar nass ist, sei es vom Regen oder vom Schweiss, wird sich erkälten. So behaupten die selbsternannten „Pferdekenner“. In den 40 Jahren seiner tierärztlichen Pferdepraxis hat der Autor aber kein einziges erkältetes Pferd erlebt!

Gewiss: es gibt Infektionskrankheiten, Heu- und Stroh-Stauballergien und Lungenprobleme durch schlecht belüftete Stallungen und ähnliches. Diese Pferde helfen sich mit Husten als Abwehr und Heilmassnahme. Erkältet sind sie nicht, ganz im Gegenteil, wären sie in frischer – kalter – Luft gestanden, würden sie nicht in dem Masse an Atemwegserkrankungen leiden.

Bei einer vernünftigen Stallung sind Decken überflüssig: die Pferde stehen nämlich hier jeden Tag und bei jedem Wetter auch auf der Weide und haben deshalb auch kaum Atemwegserkrankungen. Sie haben einen gut trainierten Thermoregulationsmechanismus. Wenn also der Grund der Erkältung nicht stichhaltig ist, dann muss doch ein anderer Grund das Eindecken der Pferde rechtfertigen.

2. Das Winterfell

Auch hier sagt der Deckenfetischist: Deckt man die Pferde im Herbst nicht rechtzeitig ein, bekommen sie ein stärkeres Winterfell und schwitzen beim Reiten sehr stark. Hier kann man nur sagen: Na und…?

Draftpferd im Winter

Es ist richtig, dass manche Pferde – vor allem die alten – im Winter ein relativ dichtes Winterfell bekommen. Zum Glück, denn bei einer artgerechten Haltung sollten sie auch im Winter mindestens tagsüber auf der Koppel sein und hier brauchen sie einen Kälteschutz. Das heisst aber nicht, dass sie nicht auch im Winter gearbeitet werden können: Die Dressurarbeit oder das Springtraining kann auch mit einem Winterfell unverändert weitergehen. Natürlich schwitzen die Pferde schneller und intensiver. Aber sie trocknen schneller wieder, wenn man ihnen anschliessend keine Decke auflegt.

Am schnellsten trocknen sie auf der Weide. Innerhalb von wenigen Minuten sind Fell und Haut trocken. Nicht so die eingedeckten Pferde: diese schwitzen unter Umständen noch nach einer Stunde. Geradezu schädlich sind die Solarien. Hier dauert der Trocknungsprozess noch länger. Letztendlich will die Natur die innere Körpertemperatur, die durch Winterfell und Arbeit schnell gestiegen ist, durch Schwitzen wieder abbauen.

Natürlich ist es unreiterlich, ein Pferd intensiv zu arbeiten und es übergangslos in die Box oder auf die Koppel zu stellen. Jede Arbeit ist mit einer längeren Schrittphase abzuschliessen. Das Pferd sollte den Reiter nicht nur als fordernden, sondern auch als entspannten, freundlichen und lobenden Freund kennen lernen. In diesem Zusammenhang ist es als Gipfel einer fehlenden horsemanship anzusehen, die Pferde zum „Trocknen“ an eine Führanlage zu „hängen“, die die psychologisch wertvolle Schritt-Abschlussphase ersetzen soll.

Aber keineswegs ist es erforderlich, die Pferde so lange Schritt zu reiten, bis sie ganz trocken sind. Haut und Unterfell sind häufig schon nach 5 – 10 Minuten trocken. Auch ein noch feuchtes Pferd wird sich bei Wind und Wetter nicht erkälten.

3. Grund: Der verspannte Rücken

Es ist unklar, auf welcher Erfahrung die Behauptung beruht, ein nicht eingedecktes Pferd habe schneller Rückenprobleme. Ein guter Reiter wird sein Pferd durch korrektes Reiten im Rücken locker machen.

Der schlechte Reiter aber kann sein Pferd auch mit drei Decken eindecken, das Pferd wird trotz dieser Massnahme bei mangelnder Hilfengebung und schlechtem Beritt immer verspannt bleiben. Eine Decke als „Beritthilfe“? Diesen Grund kann nur ein unerfahrener und schlechter Reiter vorgeben.

4. Grund: Der Schmutz

Das Argument des Schmutzes ist wahrlich nicht zu entkräften. Tatsächlich macht es Arbeit, ein Pferd, welches sich auf der Weide gewälzt hat, zu „entkrusten“.

Wälzen ist wichtig

Aber das Pferd braucht die Dreckkruste auf der Haut als eine Art der Haut- und Fellpflege. Das Pferd hat andere Vorstellungen von Hygiene und andere Bedürfnisse als wir Menschen. Lassen wir doch dem Pferd die Freude des Wälzens im Schlamm, im Sand oder der Erde. Es wird glücklich sein und auch eine gesunde Haut haben. Auch die lästigen Insekten können so eher abgewehrt werden. Die Zeit von 10 Minuten zum putzen sollte man vor dem Reiten schon haben.

5. Grund: Die Wertsteigerung

Wenn Herr Springhoch und Frau Mitteltrab ihr 100’000 Euro-Pferd nach der Arbeit bedeutungsvoll eindecken, so hofft doch auch Lieschen Pferdelieb, dass ihr Doppelpony etwas an Wert gewinnt, wenn es wenigstens eine schöne Decke anhat.

6. Grund: das gute Tun

Viele Reiter haben unbewusst oder bewusst manchmal (oder immer) ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem Pferd zuviel abverlangen. Andererseits war das Pferd sehr teuer und sie wollen eine adäquate Gegenleistung von ihrem „Sportgerät“.

Sozusagen als Entschuldigung oder auch als Dankeschön tun sie dem Pferd nach dem Abschluss der Arbeit etwas „Gutes“: sie legen dem Tier eine schöne Decke auf. Aber sie tun nur sich selbst etwas Gutes!

7. Grund: Pflegebedürfnis

Pferdepflege ist nicht nur ein Gebot der Hygiene und Gesundheit, sie hat noch wesentlich wichtigere Bedeutung für das Wohlbefinden der Pferdebesitzer.

Pferde als Spielzeug

Das Umsorgen, Versorgen, Betreuen, Bemuttern, Verhätscheln, Zufüttern und ähnliches mehr gipfelt irgendwie auch in einer Decke. Sie ist die Krone der Fürsorge. Der Mensch tut sich hier selbst einen Gefallen.

Besonders junge Mädchen, die ihre Puppe gerade mit einem Pferd eingetauscht haben, glauben hier ihre Pflege weiter betreiben zu müssen. Dem Pferd wird man mit dieser naturfremden Betreuung sicherlich nichts Gutes tun.

8. Grund: Tiermedizinischer Notfall

Dies ist wirklich einer der wenigen vernünftigen Gründe für eine Decke: Im Schock – sei es nach einem Unfall, bei der Kolik, bei starkem Blutverlust oder ähnlichem kann es von grosser Bedeutung sein, das Pferd vor einem weiteren Temeraturverlust zu bewahren.

Hier ist eine gute warme Decke absolut vernünftig und gerechtfertigt.

Nun könnte der aufmerksame Leser meinen, die Aufregung des Autors über Decken wäre völlig überflüssig, da sie doch keinen Schaden am Pferd ausrichten können. Dem ist jedoch nicht so:

Das Thermoregulationszentrum des Pferdes wird nur durch Temperaturschwankungen in der Umgebung des Pferdes trainiert. Wenn es schon eine Förderung der Stallhygieniker ist, dass die Stalltemperatur an die Aussentemperatur angeglichen werden soll, so gilt dies auch für die unmittelbare Luftschicht in direkter Umgebung zu der Pferdehaut.

Auch kann die Bedingung einer artgerechten Weidehaltung nicht erfüllt werden, wenn die Pferde nachts eingedeckt im Stall stehen und tagsüber ohne Schutz auf der Weide. Oder sollten die Pferde vielleicht mit einer Decke auf die Weide kommen? Eingedeckte Pferde auf der Weide aber sind der Gipfel der Unvernunft.

Artgerecht gehaltene Pferde haben die geringsten Risiken einer Atemwegsinfektion, einer Kolik und vieler anderer Krankheiten. Im übrigen ist es doch eigenartig, dass die oben erwähnten selbsternannten Pferdefachleute es weitgehend tolerieren, wenn Pferde in den ersten drei Jahren ohne Decken im Gestüt auf die Weide gehen und nach Abschluss ihrer sportlichen Karriere wieder in die „Unbillen“ der Natur in den sogenannten „Gnadenhof“ entlassen werden.

 

Wir danken Herrn Dr. Maximilian Pick, Fachtierarzt für Pferde, für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Artikels.